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„Friedliches Tibet ist ein Mythos"

2008-04-06

Tibet haftet ein Bild von Gewaltlosigkeit und Frieden an. Alles Täuschung, behauptet der US-Historiker Tom Grunfeld im Interview mit FOCUS-Korrespondent Jürgen Schönstein.

FOCUS Online: Wie lässt sich das gewaltlose, friedliche Image Tibets mit den aktuellen Ausschreitungen vereinbaren?

Tom Grunfeld (*): Gar nicht, weil das nur ein Mythos ist. Ich erinnere mich an eine Konferenz, in der ein führender Vertreter der tibetischen Unabhängigkeitsbewegung gegen dieses mythische Image Tibets wetterte und erklärte: ´Ich habe noch keinen Tibeter getroffen, der keine Gewehre mag.´ Es gab in Tibet ebenso Gewalt wie sonst wo auf der Welt. Die Klöster hatten sogar richtige Mönchsarmeen, die ständig miteinander im Krieg lagen.

FOCUS Online: Wie konnte sich dann, Ihrer Ansicht nach solch ein spiritueller, friedfertiger Mythos entwickeln?

Grunfeld: Das nahm seinen Anfang im 18. und 19. Jahrhundert, als Westeuropäer durch die ganze Welt reisten, jeden Gipfel erklommen, jede Flussquelle erforschten – doch ein Ort, den sie nie erreichen konnten, war Tibet. Und je weniger zugänglich es war, desto lockender erschien es. Und je mehr es lockte, desto mehr wuchs der Mythos um die vermeintlichen Geheimnisse, die sich dort verbargen. Aber Asiaten durften immer nach Tibet reisen, es gab Handelswege und Pilgerzüge. Tibet war kein geschlossenes Land, nur für Westler war es verboten. Ich habe eine Liste mit den Namen aller Westler, die bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts jemals nach Tibet gereist sind, und die ist nicht sehr lang. Vielleicht ein paar Dutzend Namen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erlebten wir im Westen die Gründung neuer Religionen, vor allem die Theosophen, die ihre Vorstellungen vom tibetischen Buddhismus in ihre Religion einbringen. Und dann, in den 20er-Jahren, schrieb der Amerikaner James Hilton „Lost Horizons": die Geschichte einer perfekten Welt, wo niemand alt wird, niemand arbeiten muss, die Sonne immer scheint – ein westlicher Wunschtraum, natürlich. Aber daraus wurde ein Broadway-Hit, ein Kinofilm und das bestärkte die Vorstellungen dieses geheimnisvollen Ortes, die bereits vorhanden waren.

FOCUS Online: Aber der Dalai Lama gilt heute als ein authentische Verkörperung dieser tibetischen Spiritualität.

Grunfeld: Als der Dalai Lama 1959 das Land verlassen musste, fand er sehr wenig Unterstützung seitens der USA und der Briten. Dann, in den 80er-Jahren, tat sich sehr viel in Tibet: Reformer kamen an die Macht, die mit dem Dalai Lama arbeiten wollten, um die tibetische Kultur und Sprache zu erhalten. Doch dann scheiterten die Gespräche aus uns unbekannten Gründen. Der Dalai Lama kam in die Zwickmühle: Sollte er darauf warten, dass die Chinesen von sich aus wieder den Dialog suchten, was Wochen, Monate, Jahre, Jahrzehnte dauern konnte – oder etwas tun, um Druck auf China auszuüben, damit es an den Verhandlungstisch zurückkehrte. Westliche Public-Relations-Firmen und Lobbyisten wurden angeheuert, und die schufen diese Internationalisierung Tibets.

FOCUS Online: Unter Ausnutzung der bereits existierenden Tibet-Fantasien?

Grunfeld: Ja, obwohl das nicht die Absicht des Dalai Lamas war. Er hatte politische Ziele: Er wollte, dass der US-Kongress oder der Deutsche Bundestag die Chinesen wieder an den Verhandlungstisch zurückdrängten. Aber da waren eben diese fünf, sechs Jahrzehnte mythischer Tibet-Vorstellungen im Westen. Und dann kommt der Dalai Lama, gekleidet in farbige Roben, als ein Mann des Friedens. So kam alles zusammen.

Der Dalai Lama und das Geld

FOCUS Online: Sie glauben also nicht, dass das Auftreten des Dalai Lama echt ist?

Grunfeld: Ich bin sicher, dass seine Religiosität echt ist. Aber er reist auch erster Klasse, hat sehr viel Geld, für das er keine Rechenschaft ablegen muss. Angeblich hatte ihm die CIA jahrelang etwa 700 000 oder 800 000 Dollar jährlich für seine privaten Zwecke gezahlt.

FOCUS Online: Und was halten die Tibeter selbst von diesem spirituellen Image, das sie im Westen haben?

Grunfeld: Die Menschen in Tibet haben gar keine Ahnung davon. Aber die meisten Aktivisten im Exil hassen es, weil es nicht ihre Realität reflektiert. Und sie lehnen jeglichen Dialog mit den Chinesen ab – die Vorstellung, dass man sein Ziel mit Gebeten und Friedfertigkeit erreichen kann, ist ihnen fremd.

FOCUS Online: Aber irgendwie muss man ja zu einer Lösung kommen. Ist ein Dialog, vor allem angesichts der Veränderungen in China selbst, wieder denkbar?

Grunfeld: Die Hardliner, die nach dem Scheitern eines Tibet-Kompromisses an die Macht kamen, sitzen noch heute da, so tragisch das auch ist. Ein Kompromiss ist immer noch unverzichtbar, aber nach all den Jahren fehlt beiden Seiten das Vertrauen. Die Gespräche zogen sich seit 1979 hin und führten zu nichts. Also muss man erst mal vertrauensbildende Maßnahmen finden – man kommt zu nichts, wenn man nicht wenigstens annehmen kann, die Gegenseite sei vertrauenswürdig. Aber genau das ist ja das Problem, und ich vermute, bis zu den Olympischen Spielen wird das nicht besser werden. Der Deckel wird drauf bleiben und alles so weiter gehen wie bisher, denn die Olympischen Spiele sind viel zu wichtig für China.

FOCUS Online: Wird der Dalai Lama diese Krise politisch überstehen, in der er sich entweder von seinen Tibetern und den Ausschreitungen lossagen muss – oder seinen Nimbus als Vertreter der Gewaltlosigkeit riskiert?

Grunfeld: Das hat er schon einmal geschafft. Die Guerillabewegung ab 1956, bis in die frühen 70er-Jahre, stellte ihn vor das gleiche Problem. Die Kämpfer, bewaffnet von der CIA, zogen los, um Chinesen zu erschießen. Damals hatte der Dalai Lama diese Bewegung im Stillen unterstützt und sich öffentlich bedeckt gehalten. Aber es ist ein sehr schmaler Grat für ihn, und die meisten Tibeter halten nichts von seinem Mittelweg – weil er ihnen auch in 30 Jahren nichts gebracht hat.

FOCUS Online: Führt denn irgendjemand die Unruhen in Tibet an?

Grunfeld: Ich bezweifle das. Ich glaube, dass das Zusammenspiel des Jahrestags am 10. März mit seinen traditionellen, rituellen Demonstrationen und die Olympia-Vorbereitungen den Funken geliefert haben. Der Unmut der Tibeter, der sich über die Jahre aufgebaut hat, explodierte. Noch nie zuvor hatte sich jemand, der kein Mönch ist, an Protestaktionen beteiligt. Nie zuvor außerhalb von Lhasa. Und jetzt ist es überall! Erstaunlich. Mao sagte, dass ein einzelner Funke ein Steppenfeuer entfachen kann – wenn die Steppe ausgetrocknet ist. Ich glaube, dass die chinesische Politik diese Steppe vertrocknen ließ.

(*) Tom Grunfeld ist Professor am Empire State College der State University of New York. Der Experte für chinesische Geschichte ist Autor des Buches „The Making of Modern Tibet".

Quelle: FOCUS Online

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