Start   Bekämpfung COVID-19   Das Generalkonsulat   Konsularischer Service   Bildung und Kultur   Wirtschaft   Willkommen
in China
 
 Kontakt 
  Start > Wie sehen die Deutschen China
Chongqing, die Mutter aller Metropolen

2011-04-03

Export war gestern, es lebe der Binnenmarkt: Millionen Bauern und Arbeiter sollen die Megacity Chongqing in einen überdimensionalen Konsumtempel verwandeln. Kann das gelingen? Ein Blick hinter die Fassaden der größten Stadt der Welt. von Ruth Fend

Ewig zieht sich die Fahrt auf dem Jangtse, monoton tuckern die Schiffsmotoren, das schlammige Wasser gurgelt unter dem Bug. Die Touristen, die von Schanghai über den Fluss hierher nach Chongqing reisen, müssen Geduld mitbringen auf ihrer Fahrt in die größte Stadt der Welt. Vom Stadtrand bis ins Zentrum braucht das Schiff zwei Tage, die Metropole beansprucht eine Fläche von der Größe Österreichs. Terrassierte Felder ziehen vorbei, kleine Dörfer. Dann, endlich, tauchen hinter langen Autobahnbrücken die dicht gedrängten Wolkenkratzer von Chongqing im Dunst auf.

Cui Zhiyuan hat sich längst an dieses uferlose urbane Meer gewöhnt. Seit annähernd zwei Jahren treibt den Ökonomieprofessor die wissenschaftliche Neugierde immer wieder hierher. Er hat an den US-Eliteuniversitäten Harvard und MIT geforscht, zuletzt an der Tsinghua University in Peking. Doch statt in edlen Bibliotheken sitzt er nun in einem Zimmer der Stadtverwaltung, macht eine Art Praktikum im richtigen Leben. "In Chongqing", sagt Cui, "passiert einfach unglaublich viel."

"Go west" nennen die Chinesen ihre Strategie

Chongqing? Bisher ist der 32-Millionen-Moloch mit dem unaussprechlichen Namen nur Experten ein Begriff. Das könnte sich bald ändern. Chongqing, das ist eine gigantische sozioökonomische Experimentierzone, Schauplatz eines kühnen planwirtschaftlichen Feldversuchs. Hier, im Herzen des riesigen ­Reiches, will die Volksrepublik nichts weniger als ihr exportfixiertes Wachstumsmodell umstellen: weg vom Image als Werkbank der Welt, weniger Ausfuhren, mehr Wertschöpfung im Inneren, mehr Konsum.

Die Staatsführung stellt sich das ungefähr so vor: Staatlich gepäppelte Unternehmen bieten in Chongqing Millionen Menschen Arbeit. Bettelarme Bauern verlassen ihre Scholle, heuern in diesen Unternehmen an, werden zu besser verdienenden Städtern. Sie produzieren Güter, die sie sich selbst leisten können - ­eine chinesische Mittelschicht entsteht.

"Go west" nennen die Chinesen ihre Strategie der Rückwärtsglobalisierung, die sie auch in anderen Städten verfolgen. Mit ihr will die Regierung den extremen Exportüberschuss abbauen und die Unruhe stiftenden Ungleichheiten zwischen boomender Küste und bitterarmem Hinterland beseitigen. Die Früchte des Aufschwungs, sie sollen gleichmäßiger verteilt werden. Zugleich will das Land unabhängiger werden vom Rest der Welt.

So weit der Plan. Und die Regierung lässt keinen Zweifel daran, dass sie es ernst meint. Sie überschüttet die Jangtse-Metropole mit Steuerprivilegien und Geld wie sonst nur die Exportzentren Shenzhen oder Schanghai. Im vergan­genen Jahr sind fünf Brücken über den Jangtse entstanden, drei neue Flughäfen werden gebaut, Hunderte Fabriken, Tausende Wohnsilos.

Modernisierung und kommunistische Tradition verbinden

Schon trumpft die Stadt mit abenteuerlichen Wachstumsraten auf. Als die Krise das chinesische Wirtschaftswachstum im Jahr 2008 auf acht Prozent herunterkühlte, meldete die Wirtschaft in Chongqing ein Plus von fast 15 Prozent.

Diese Dynamik ist staatlich verordnet- wie so ziemlich alles in diesem ­Moloch. Selbst der Titel "größte Stadt der Welt" ist nichts anderes als das Ergebnis eines verwaltungstechnischen Kniffs: Die Regierung schlug dem Ballungsraum Chongqings mit rund sechs Millionen Einwohnern einfach das Umland zu.

Die Megalopolis mit nun 32 Millionen Einwohnern hat seitdem den Status einer Provinz, die Machthaber in Peking haben so ein unmittelbares Durchgriffsrecht. Ursprünglich diente das administrative Manöver einem anderen Zweck: Es vereinfachte das Umsiedeln von Menschen, deren Häuser vom steigenden Wasser des Jangtse verschluckt wurden, als der Drei-Schluchten-Damm gebaut wurde.

Jetzt soll die Riesenstadt zum überdimensionalen Konsumtempel avancieren. Und Modell stehen für ähnliche Projekte. Ein Vorhaben, das nicht nur an den Grundfesten der chinesischen Gesellschaft rüttelt, sondern auch im Westen aufhorchen lässt. Seit Jahren stöhnen Unternehmen in Europa und den USA über die Billigkonkurrenz aus Fernost. Jetzt schickt sich China endlich an, zum Absatzparadies zu werden.

"Das Potenzial des Hinterlands ist enorm", sagt ein deutscher Manager, der seit mehr als zehn Jahren in China arbeitet. Einer der Konzerne, die dem Ruf des Westens bereits gefolgt sind, ist BASF. Die Ludwigshafener warten nur noch auf die letzten Genehmigungen, dann bauen sie für 1 Mrd. Euro eine Produktionsanlage in Chongqing. Sie wird größer sein als das deutsche Stammwerk und chemische Vorprodukte für andere Unternehmen liefern. GM, Fiat und Ford produzieren längst in Chongqing mit chinesischen Partnerunternehmen Autos - ausschließlich für den lokalen Markt.


                           und Luxus: hier ein Auto des chinesischen Herstellers Hongqi

Zugleich locken die noch sehr nied­rigen Löhne weitere Unternehmen ins Hinterland. Apple-Zulieferer Foxconn hat einen Teil seiner Produktion nach Chongqing verlagert. Auch der IT-Konzern HP, den Foxconn ebenfalls beliefert, hat im vergangenen Jahr seine größten Fabriken hier hochgezogen und will fortan pro Jahr 80 Millionen Laptops bauen.

Die Hügelstadt mit ihren reichlichen Gasvorkommen ist logistisch gut angebunden. Früher waren die umliegenden Bergketten ein natürliches Hindernis. Doch seit dem Bau des Drei-Schluchten-Damms können Containerschiffe den Jangtse von der Küste bis ins tibetische Hochland hinaufschippern - und halb China beliefern.

Dort, wo der mächtige braungelbe Jangtse-Strom und der kleinere Jialing-Fluss zusammenfließen, hat Wissenschaftler Cui in einem unscheinbaren Verwaltungsgebäude sein Büro. Er arbeitet quasi Tür an Tür mit den Verantwortlichen, bekommt die Informationen, die er als Forscher braucht. Von seinem Schreibtisch blickt der Ökonomieprofessor auf die neu gebaute Oper. Ihre Form erinnert an ein Schiff, nachts werden bewegte Werbebilder auf die gigantische Fassade projiziert.

"Unternehmertum und Staatsbesitz sind kein Widerspruch"

Auf der anderen Flussseite ragt glitzernd die Skyline auf. Was so modern und weltoffen daherkommt, ist zuvorderst der Erfolg der Staatsbetriebe, glaubt Cui: "Die staatlichen Unternehmen sind in Chongqing profitabel. Und die Infrastruktur, die sie bauen, kommt dann auch den Privaten zugute." Dank ihrer Gewinne könne sich die Stadt den niedrigen ­Unternehmenssteuersatz von 15 Prozent leisten. Üblich sind 33 Prozent.

Die Staatswirtschaft subventioniert die Privatwirtschaft - in Chongqing sieht Sozialwissenschaftler Cui die Theorie des liberalen Sozialismus verwirklicht, nach der es für den Staat besser ist, eigene Werte zu besitzen, statt sich nur auf Steuereinnahmen der Privaten zu verlassen. "Chongqing zeigt, dass privates Unternehmertum und Staatsbesitz kein Widerspruch sind", sagt Cui.

Der Professor ist ein Vertreter der neuen Linken, deren Stimme in China zunehmend Gehör findet. Neu an ihnen ist, dass sie den Marktmechanismus befürworten. Links sind sie, weil sie Chinas turbokapitalistische Entwicklung kritisieren, die rasche Öffnung der Wirtschaft bremsen und den Reichtum gerechter verteilen wollen. Dieser Kurs hat in den vergangenen Jahren mehr und mehr auch die Linie von Präsident Hu Jintao und Premier Wen Jiabao bestimmt.

Deren Statthalter in Chongqing hat seinen eigenen Stil entwickelt, Modernisierung und kommunistische Tradition zu verbinden: Bo Xilai, Parteisekretär seit 2008 und Chef der Stadtregierung in Chongqing, ist einer der profiliertesten Politiker Chinas. Gut möglich, dass der ehemalige Wirtschaftsminister bald in den ständigen Ausschuss des Pekinger Politbüros einziehen darf. Damit würde er zu den neun mächtigsten Politikern der Volksrepublik aufsteigen.

In Chongqing machte Bo als Erstes von sich reden, als er brutal mit der ört­lichen Mafia aufräumte. Seither versucht er, den Sumpf aus Korruption trockenzulegen. Mehr als 1000 Verdächtige ließ er bisher festnehmen und zum Teil foltern, eine Handvoll von ihnen sogar hinrichten.

Aus Bauern sollen Städter werden

Zugleich überraschte er seine Bürger mit Charmeoffensiven. Einen Taxifahrerstreik beendete Bo, indem er die Fahrer zu einer Diskussion einlud, die im Staatsfernsehen übertragen wurde. Um Chongqing ein Öko-Image zu verpassen, ließ er Millionen Bäume anpflanzen - von denen jedoch viele nur noch als laublose Skelette die Straßen säumen.

Trotz oder gerade wegen solcher Aktionen genießt der 60-Jährige in der Jangtse-Stadt eine Art Kultstatus. In den Souvenirläden prangt auf Tassen und ­T-Shirts sein Konterfei. "An der Spitze hat Chongqing zwei superfähige Leute", urteilt ein westlicher Manager, der sich vor Ort glänzend auskennt. Bos Stellvertreter Huang Qifan ist ebenfalls ein Wirtschaftsfachmann. Er hat die Sonderwirtschaftszone Pudong bei Schanghai aufgebaut.


                                       Chinesische Bäuerin beim Schweinefüttern

Unter der Ägide der zwei Politiker greift der Staat rabiat in das Leben der Bürger ein. Kernstück des Chongqing-Projekts ist die Urbanisierungsstrategie. Verkürzt bedeutet sie: So viel Stadt wie nur eben möglich.

Noch gelten 72 Prozent der Einwohner Chongqings offiziell als Bauern. Doch der städtische Raum dehnt sich immer weiter aus. Oft vergibt die Regierung das Farmland an Stadtentwickler und Baufirmen. Die Landwirte werden, mit Glück, minimal entschädigt und ziehen als Arbeiter in die Metropole.

Dort prallen alt und modern an jeder Ecke frontal aufeinander. Konsumbegeisterte junge Chinesen flanieren durch Kaufhäuser, in denen von Adidas bis Zegna westliche Marken feilgeboten werden. Nebenan balancieren ausgemergelte Träger Obstkörbe über die Straße, Arbeiter drängeln sich in engen Garküchen.

Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, wie Urbanisierungstheoretiker dieses Phänomen nennen, schafft enorme Probleme. Milieus verfallen, nachbarschaftliche Beziehungen lösen sich auf. Die Verlierer solcher Prozesse bleiben entwurzelt zurück.

Auch die Bauern zahlen für die Reform einen Preis

Für die Sozialwissenschaftlerin Liu Juan eine besorgniserregende Entwicklung. Sie ist in Chongqing aufgewachsen und hat sich mit dem Schicksal der Wanderarbeiter intensiv beschäftigt: Die Migration passiere einfach zu schnell, warnt die Forscherin der Southwest University of Political Science and Law.

Viele Enteignete bekämen zwar eine moderne Wohnung, hätten aber keine Arbeit. "Deshalb teilt sich die Familie dann ein einziges Zimmer und vermietet die übrigen", sagt Liu. Die Menschen litten unter Isolation und Minderwertigkeitskomplexen gegenüber der Stadtbevölkerung.

Auch aus Sicht der Stadtregierung hat die Zwangsurbanisierung tief greifende Folgen. Künftig sollen Wanderarbeiter, die noch immer offiziell als Bauern registriert sind, den Städterstatus erhalten.

Bislang war jeder Chinese von Geburt an als Stadt- oder Landbewohner registriert und einer Region zugeordnet. So sieht es das staatliche Registrierungs­system Hukou seit der Gründung der Volksrepublik vor. Die Landwirte haben keinen oder sehr erschwerten Zugang zu städtischen Schulen oder Krankenhäusern. Einmal Bauer, immer Bauer.

In Chongqing soll dies anders werden. Bis Ende 2011 will die Stadtregierung ­Arbeitern vom Land, die mindestens drei Jahre in der Metropole leben, das städtische Hukou anbieten. Etwa 3,4 Millionen ehemalige Bauern hätten dann ein Anrecht auf Sozialleistungen und Rente - ­eine enorme Belastung für die öffent­lichen Kassen.

Aber auch die Bauern zahlen für diese Reform einen Preis. Denn sie haben Rechte, die Städtern verwehrt sind. Sie dürfen ihr Land, das offiziell dem Staat gehört, 70 Jahre lang nutzen oder verpachten. In Chongqing können Wanderarbeiter vom Land die Rechte beider Systeme für ein paar Jahre behalten, bevor sie sich für eines entscheiden müssen.

Ohne eigenes Haus keine Frau

Das größte Problem der staatlich verordneten Landflucht ist die Knappheit an Wohnraum. Rasch steigende Häuserpreise sind die Folge. Kaum etwas bewegt die Chinesen so sehr wie der Immobilienboom. Ohne eigenes Haus haben junge Männer auf dem Heiratsmarkt schlechte Karten. Mietwohnungen sind unattraktiv, die Bewohner haben kaum Rechte, die Mieten steigen oft in einem rasanten Tempo.

Die Funktionäre der neuen Vorzeigestadt wollen dies mit sozialem Wohnungsbau abfedern. Eine Familie mit weniger als 300 Euro Jahreseinkommen erhält eine staatlich finanzierte Wohnung, für 60 Prozent der marktüblichen Miete. Mehr als ein Drittel der Bewohner sollen derart subventioniert werden.

Und so breitet sich die Stadt unaufhörlich aus, verdrängt die letzten tradi­tionellen Winkel wie das historische Treppenviertel Shibati. Noch werkeln in dem 500 Jahre alten Slum Kleinstunternehmer, aus Kantinen dringt der Geruch von ranzigem Kochöl, die Baracken haben keine Kanalisation.

Demnächst wachsen anstelle der ­Baracken Apartmenttürme in den Himmel. Viele Slumbewohner sind schon ausgezogen, die Hütten werden abge­rissen. Die Stadtverwaltung feilscht mit Hausbesitzern nur noch um Entschädigungen.

Auch Kleinunternehmer Chang Wu wird seine Sachen packen. Der Mann sitzt mit freiem Oberkörper vor seiner Hütte und schneidet Bambus für Dumpling-Kochtöpfe. Er würde eigentlich lieber bleiben. Immerhin darf er seine Werkstatt nahe des neuen Viertels wieder­eröffnen, und er wird angemessen entschädigt. "Die Verwaltung", sagt Chang, "hat das alles gut organisiert."

Das große Ganze geht in China eben immer vor.

( Quelle: Financial Time Deutschland)

Suggest To A Friend
  Print