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Der erfolgreiche Abstieg Europas

2011-10-09
Schwellenländer wie China steigen auf, den USA und Europa droht der wirtschaftliche und politische Abstieg. Ein deutscher Politikwissenschaftler empfiehlt dem Westen nun kühn: Heute Macht abgeben, um morgen zu gewinnen.

"Abstiege sind nichts, was wir üblicherweise mit Erfolg verbinden", sagt Eberhard Sandschneider, China-Experte mit einer Professur an der Freien Universität in Berlin. Dann hält er inne, kramt in seiner Seitentasche des Jacketts und zieht eine alte Ausgabe des amerikanischen Magazins TIME vom November 2009 heraus. "The Decade from Hell", steht auf der Titelseite, eine Rückschau auf eine "teuflische Dekade". Wirtschaftliche Krisen – von der Dotcom- bis zur Weltfinanzkrise, allerorts Kriege, von Afghanistan über Irak bis hin nach Libyen.

 

Sandschneiders kommt die Erkenntnis beim Nachsinnen auf einem EU-China-Gipfel in Shanghai: Das dominierende Weltordnungssystem des Westens unter der Hegemonie der USA wankt gewaltig, Europa droht der Einsturz zu begraben. Er stellt die ganz grundlegende Frage: "In wenigen Jahrzehnten werden die Europäer nur noch vier Prozent der Weltbevölkerung sein. Wie kann es uns da gelingen, das Maß an Frieden, Sicherheit, Freiheit, das wir heute auch dank der Europäischen Union erreicht haben, zu verteidigen?" China-Experte Sandschneider begleitet den ökonomischen und geopolitischen Aufstieg des Landes. Er beginnt sich zu fragen, ob Europas Abstieg nicht auch Potentiale freisetzen, Erfolge bringen könnte.

Erfolgreich absteigen statt erfolglos reformieren?

Ein erfolgreicher Abstieg? Von derlei professoraler Rhetorik des Mitglieds der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) will Europas politisches Spitzenpersonal in Brüssel, Berlin und Paris nichts hören. Um Europa im weltweiten Wettbewerb zu stärken, wird hier über institutionelle Reformen und neue politische Instrumente nachgedacht. Als Konsequenz aus der Euro-Krise wollen die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy eine Wirtschaftsregierung aufbauen: Durch mindestens zwei jährliche Spitzentreffen der EU-27-Regierungschefs sollen Steuern, Staatshaushalte und Unternehmenspolitik besser koordiniert werden. Davon zugunsten aufstrebender Schwellenländer wie China, Indien, Brasilien oder Mexiko auf Macht zu verzichten, ist hier nichts zu hören. Stattdessen spricht man von "strategischen Partnerschaften", die das wieder erstarkte Europa mit anderen Weltregionen eingehen kann.

 

Geradezu kühn klingt es da, was der Professor in seinem neuen Buch "Der erfolgreiche Abstieg Europas" dem Kontinent als Leitlinie empfiehlt: Heute Macht abgeben, um morgen zu gewinnen. Sandschneider empfiehlt Europas Eliten auf nationaler wie EU-Ebene, keine Konfrontation mit den Schwellenländern zu suchen, sondern freiwillig Platz zu machen, beispielsweise durch die Räumung bislang für Europäer "vorbehaltene" Spitzenpositionen in internationalen Institutionen.

Erst jüngst wurde der Chefsessel des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Washington durch die frühere französische Finanzministerin Christine Lagarde besetzt: "Frau Lagarde wird diesen Job an der Spitze des IWF für eine geraume Zeit haben", sagt Sandschneider. "Aber ob ihr Nachfolger oder ihre Nachfolgerin noch ein Europäer sein wird? Die anderen werden mit Kandidaten, aber auch mit organisierten Mehrheiten bereit sein, wie sie das in vielen anderen Fällen auch schon sind."

 

Rückwärtsgewandtes Deutschland

 

Auch Deutschlands Streben nach einem ständigen Sitz im UN-Weltsicherheitsrat, dem wichtigsten Entscheidungsgremium der Vereinten Nationen, bezeichnet er als rückwärtsgewandt. "Deutschland ist mit Stolz im Sicherheitsrat, aber wir betteln bei den Westindischen Inseln mit 150.000 Euro um Stimmen, um in internationalen Organisationen als Land und auch als Repräsentant Europas noch wahrgenommen zu werden."

 

Freiwillig den Platz räumen - nur so könne Europa helfen, im derzeitigen Prozess globaler Machtverschiebungen Konflikte vermeiden, davon ist Sandschneider überzeugt. Das gelte auch in der Welthandelspolitik, in der Europa viele Trümpfe in der Hand halte, um die festgefahrenen Welthandelsgespräche der Doha-Runde wieder in Gang zu bringen, beispielsweise durch einen Verzicht auf Schutzklauseln gegen internationale Agrarprodukte. Ein gelungener Abstieg schaffe so Stabilität, Frieden und mehr Zusammenarbeit, glaubt Sandschneider.

 

Macht und Werte teilen

 

 

Für Martin Schulz, den sozialdemokratischen Abgeordneten im Europäischen Parlament und designierten Parlamentspräsidenten, reicht das globale Teilen europäischer Macht aber noch nicht, um Erfolg zu garantieren. Europa müsse auch bereit sein, seine Grundwerte zu teilen. Wie das gehen soll, legt Schulz am Beispiel der "größten Fabrik Deutschlands" dar - in der Produktionsstätte des deutschen Sportartikelherstellers Adidas in Vietnam, in der 50.000 Mitarbeiter arbeiteten. Hergestellt würden dort Bälle, T-Shirts und Trainingsanzüge zu vietnamesischen Löhnen, die dagegen in Deutschland zu lukrativen europäischen Konditionen verkauft würden.

 

Wenn es gelänge, vietnamesische Arbeitnehmer auf einigermaßen vernünftige, vergleichbare Löhne zu bringen, sie in Gewerkschaften zu organisieren und ihnen Presse- und Meinungsfreiheit zuzugestehen, dann hätten alle etwas davon, sagt Schulz bei einer Vorstellung des Buchs in Berlin. "Das heißt, der Abstieg Europas kann gestoppt werden, unter anderem dadurch, dass wir den Aufstieg anderer ermöglichen."

 

(Autor: Richard A. Fuchs)

 

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